Sichelzellenanämie - Computersimulation eines balancierten Polymorphismus

Oliver Bossert und Ulrich Bossert

 

 
Der nachfolgende Artikel ist erschienen in: MNU 51/8 S.476-477 (Ferdinand Dümmler Verlag, Bonn)

Es wird ein Programm vorgestellt, das von einer für ein Hämoglobingen einheitlichen Population (AA) in einem Malariagebiet ausgeht und simuliert, wie sich der Genpool verändert, wenn durch Mutation ein Sichelzellenallel bei einer Person (Aa) auftritt. Es wird ein Vorschlag für den Einsatz des Programmes in einem Evolutionskurs gemacht. Der Unterrichtsvorschlag ist für eine Einzelstunde im Rahmen eines Evolutionskurses der Oberstufe gedacht.

Das Computerprogramm kann kostenlos geladen werden.


1. Balancierte Polymorphismen

Gene, die Krankheiten und oft auch den frühzeitigen Tod zur Folge haben, sollten im Genpool einer Population nur in geringer Zahl vorkommen. Wenn die Betroffenen nicht das fortpflanzungsfähige Alter erreichen, sollte die Genfrequenz in etwa der Mutationsrate entsprechen. Merkwürdigerweise sind aber einige krankmachende Genmutationen in bestimmten Bevölkerungen weit verbreitet. Gerade die Beschränkung auf einige Populationen hat schon früh die Vermutung nahe gelegt, dass die Mutation ihren Trägern auch Vorteile bietet, die die Nachteile "ausbalancieren".
Dass Sichelzellenanämie und Thalassämie bei einer Malariainfektion vorteilhaft sind, hat man zuerst durch epidemiologische Untersuchungen wahrscheinlich gemacht. Vergleicht man nämlich die Vorkommen der beiden Krankheiten und die Verbreitung der Malaria tropica [1], so stimmen die Gebiete weitgehend überein. Inzwischen ist der Resistenzmechanismus aufgedeckt [2].
Andere Zusammenhänge sind mehr oder weniger gut nachgewiesen: Man vermutet, dass die Stoffwechselwege der Menschen, die zu Altersdiabetes neigen, in Hungerzeiten einen Vorteil bieten [3]. Die defekten Kanalproteine, die bei zystischer Fibrose (Mucoviszidose) vorliegen, schützen, wie Tierversuche gezeigt haben, vor einem starken Befall durch das Typhus - Bakterium [4]. Eine bestimmte Mutation eines Genes, das indirekt die Produktion des Botenstoffes NO kontrolliert, schützt Kinder vor Malaria [5].


2. Stundenverlauf

Weil Evolutionsabläufe nur in Ausnahmefällen beobachtet und experimentell angegangen werden können, ist es sehr schwierig, den Unterricht forschend-entwickelnd zu gestalten. In dem vorliegenden Fall simuliert das Computerprogramm das Evolutionsgeschehen - es kann also beobachtet werden. Ein ähnliches Programm wurde von Schülern der Liebigschule schon früher entwickelt [6].
Den Schülerinnen und Schülern sollten Struktur und Funktion des Hämoglobins, das Krankheitsbild, der Krankheitsverlauf (homozygot / heterozygot) und die Ursache und Diagnose der Sichelzellenanämie und der Lebenszyklus des Malariaerregers bekannt sein.
Der Unterricht findet in einem Computerraum der Schule statt.


Start-Bildschirm

Abbildung 1: Dieses Fenster erscheint, wenn das Programm aufgerufen wird.
Die vier Schaltflächen können angeklickt werden.
 


Wenn das Programm geladen wird, erscheint auf dem Bildschirm ein Fenster (Abb. 1) mit vier Schaltflächen, die man anklicken kann. »Info ... « enthält Bedienungshilfen für Benutzer, die das Programm weitgehender nutzen möchten. Die Parameter (Abb. 2) sind voreingestellt und sollen vorerst nicht verändert werden.



Voreingestellte Parameter

Abbildung 2: Wenn man die Schaltfläche "Edit Parameter" anklickt,
erscheinen diese voreingestellten Werte, die über
die Schieber einfach variiert werden können.


Abb. 3

Abbildung 3: Bei diesem Programmdurchlauf ist "a" nach wenigen
Generationen wieder aus dem Genpool verschwunden.


Abb. 4

Abbildung 4: Die Anzahl der "a" schwankt recht stark; langfristig
stabilisiert sich die Häufigkeit.


Die Schüler erhalten den Auftrag, das Programm zu starten, spätestens nach der 400. Generation (Abb. 4) abzubrechen und den Anteil an »a« am Genpool grob abzuschätzen. Verschwindet »a« früher aus dem Genpool (Abb. 3), so soll die Anzahl der Generationen notiert werden. Jede Gruppe startet weitere neun Durchläufe und hält die Ergebnisse fest.
Man hat nun zwei Beobachtungen, die man deuten muss: Entweder das gerade erst aufgetreten Allel a verschwindet nach wenigen Generationen wieder aus dem Genpool der Population oder es stabilisiert sich trotz starker Schwankungen langfristig bei einem Anteil zwischen 40 und 60%. (Seltener verschwindet es auch nach einer längeren Phase der Stabilität.)
Die Schüler werden aufgefordert in Zusammenarbeit mit ihrem Partner (ich gehe von zwei Schülern pro Computer aus) den Ausgangsgenpool zu skizzieren, das neu aufgetretene »a« einzuführen und zu überlegen, wie man die beiden Beobachtungen erklären kann.
Die Erklärung ist einfach, für die Schüler trotzdem meist überraschend und eindrucksvoll; vor allem zeigt das Programm deutlich, dass eine Mutation sich bei diploiden Lebewesen nicht so ohne weiteres durchsetzt.
Wenn erst ein oder wenige »a« vorhanden sind, kann es bei der zufälligen Auswahl der Allele für die nächste Generation leicht passieren, dass kein »a« »gezogen« wird. Damit ist es aus dem Genpool verschwunden(Gendrift). Steigt die Anzahl der »a«, so wird die Wahrscheinlichkeit für die letale Kombination »aa« immer größer. D.h. es stellt sich langfristig ein gewisser Anteil am Genpool ein.
Jetzt startet man das Programm erneut und klickt nach etwa 100 Generationen die Schaltfläche »Edit Parameter« an und stellt den Schieber für, »AA chance survival« auf 100%; das entspricht einer Impfung gegen Malaria (Abb. 5).



Abb. 5

Abbildung 5: Hier wurde die Population gegen Malaria geimpft.


Abb. 6

Abbildung 6: Nach der Impfung gibt es für "Aa" keinen Selektionsvor-
teil mehr und "a" verschwindet relativ schnell aus dem Genpool.

Setzt man das Programm fort,so sieht man (Abb. 6), dass »a« nach wenigen Generationen aus dem Genpool verschwindet. Die Schüler sollen diese Beobachtung damit erklären, dass der Selektionsvorteil für die Träger von»Aa« weggefallen ist und die weiterhin bestehende Letalität für dieTräger von »aa« dazu führt, dass »a« aus dem Genpool verschwindet. Die Schüler können zu Hause untersuchen, wie sich die Häufigkeiten am Genpool ändern, wenn man die »chance of survival« ändert.


Literatur

[1] Betke, K.: Angeborene Blutkrankheiten als Verhängnis und Vorteil. - Naturwissenschaftliche Rundschau 38 (1985) 5 S. 189-197

[2] Friedman, M.J. u.a.: The Biochemistry of Resistance to Malaria. - Scientific American 244 (1981) 3 S. 112-120

[3] FAZ vom 12.05.1993 - Altersdiabetes als Vorteil - nach Deutsche Medizinische Wochenschrift 118 S.602

[4] NZZ vom 27.05.1998 - Zwiespältige Genfehler - nach Nature 393 (1998) S. 79-82

[5] SZ vom 05.02.1998 - Gen schützt Kinder vor Malaria - nach Lancet 351 (1998) S.265

[6] Koblischke, A. u.a.: Populationsgenetische Modelle mit dem Computer im Unterricht. - LOG IN 3 (1983) 1 S. 21-24



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Domäne  Bossert



22. Dezember 1998
© B.Bossert